Kazis
Verständigung
In der Sendung Treffpunkt auf Radio SRF1. Eine Stunde live Talk und Musik zum Thema "Wir und unsere Eltern".
Ein Abend bei Orell Füssli Basel https://www.youtube.com/watch?v=_EiNgOa0UnA
Das Buch: Alte Bande ( im Buchhandel erhältlich)
Kaum veröffentlicht und schon auf der Bestsellerliste (Platz 2) :
Interview mit Dr. Ugolini im Tagblatt vom 27. Dezember 2023:
Doppelt alt — Cornelia Kazis über das späte Miteinander
Wenn es überall weihnächtlich funkelt, besinnen sich viele wieder auf ihren Ursprung, auf die Herkunft, auf die Familie. Und die besteht neuerdings oft aus vier Generationen. Die Erwartungen an ein glanzvolles Miteinander sind hoch. Besonders zwischen den betagten Eltern und ihren alten Kindern. Die Langlebigkeit macht es möglich: Noch nie in der Geschichte der Menschheit haben Eltern und Kinder so viele Jahre hintereinander miteinander feiern können. Weil das neu ist, ist es auch herausfordernd.
«Es kommt nicht darauf an, wie alt man ist. Es kommt darauf an, wie man alt ist. « Der Satz klingt gut. Er stammt von Carl Ochsenius, einem deutschen Geologen. Nur, der Mann mit dem seltsam deutsch- lateinischen Namen ist weit davon entfernt zu erklären, was es heisst, selbst schon mehrfache Grossmutter und gleichzeitig immer noch Kind zu sein, weil die eigene Mama noch lebt.
Die Lebenserwartung steigt und steigt. Allein in den letzten 20 Jahren stieg sie bei den Männern um fünf und bei den Frauen um drei Jahre. Die längste Beziehung weltweit ist diejenige zwischen Müttern und Töchtern.
Vorbildlosigkeit
«Wir leben in einer Art Vorbildlosigkeit», sagt die Zürcher Gerontopsychologin Dr. Bettina Ugolini. Sie leitet die Beratungsstelle LIA, Leben im Alter des Zürcher Zentrums für Gerontologie (ZfG) der Universität Zürich. Ugolini sieht vor allem fünf Faktoren für die von ihr diagnostizierten Vorbildlosigkeit. Nebst der Langlebigkeit spielt die geographische Distanz zwischen vielen betagten Eltern und ihren Kindern eine entscheidende Rolle. Migration und Mobilität bringen mit sich, dass die Unterstützung der betagten Eltern nicht eben schnell um die Ecke zu leisten ist, sondern komplexer organisiert werden muss. «Kommt dazu, dass sich die Frauenrolle in nur einer Generation, zwischen den betagten Müttern und ihren Töchtern in den meisten Fällen entscheidend verändert hat», sagt Ugolini. «Waren die Mütter für ihre eigenen Mütter noch häufiger bekennende Care- Arbeiterinnen, sind ihre Töchter beruflich sozialisiert und deutlich weniger verfügbar.» Trotz Emanzipation,- noch heute zeigt die Altersforschung einen grossen Gender- Gap, wenn es um die Unterstützung der hinfälliger werdenden Mütter und Väter geht. Nach wie vor ist das Leibliche eher Tochtersache, während sich die Söhne eher für administrative Angelegenheiten ins Zeug legen. Bei tochterlosen Familien sind dann die Schwiegertöchter gefragt.
Der stetige Geburtenrückgang bringt es zudem mit sich, dass die Umsorgung der unterstützungsbedürftigen Eltern auf weniger Kinderschultern verteilt bleibt. Ein letzter und einflussreicher Faktor ist der Wertewandel, der sich zwischen den sehr betagten Eltern und ihren längst nicht mehr taufrischen Kindern vollzogen hat.
Wertedifferenz
Wer zwischen 1946 und 1964 geboren ist, gehört zu den Babyboomern. Eine Ich verliebte, zumindest in unseren Breitengraden kriegsverschonte Generation, deren Kardinalwert die Autonomie ist. Auch wenn die Hüften steifer und die Haare lichter werden,- die Babyboomer fühlen sich nicht selten als Neverager. «So wie die Babyboomer ihr Erwachsensein neu definierten, so definieren sie auch ihr Leben im Alter neu», sagt der namhafte Zürcher Professor für Alterssoziologie François Höpflinger. Diese ICH Generation sind die Kinder der MAN Generation, der Maturisten, wie die Fachleute sagen. Der MAN Generation gehören Frauen und Männer an, die zwischen 1910 und 1945 geboren sind. Als sie jung waren, herrschte Krieg, Entbehrung und Angst, Schrecken und Tod. Mangel und Verzicht waren an der Tagesordnung. Die Maturisten teilten den sehnlichen Wunsch nach Ordnung im Chaos, nach Zusammenhalt in der Verlorenheit, nach gemeinsamen Richtwerten in einer aus den Fugen geratenen Welt. Auch wenn ihre Kinder, die Babyboomer, gut informiert sind über die aktuelle Schieflage der Welt mit Klimakrise, neueren Kriegen und der weltweit verbreiteten sozialen Ungerechtigkeit, so bleiben sie doch in der Regel bei ihrem erkämpften SELBST. Wen wundert es also, dass, wenn an Weihnachten die Kinderlein kommen, das familiale Weihnachtsfest nicht immer nur fröhlich und selig wird. Und die Nacht nicht einfach nur still und heilig.
Augenhöhe
Konflikte im familiären späten Miteinander sind Bettina Ugolinis Spezialgebiet. Ganz gleich ob es um Hinfälligkeit oder Aufmüpfigkeit, um alte Rollen und neue Wege, um Schuld und Schuldigkeit, Entlastung und Überforderung geht,- auf der Beratungsstelle LiA kann alles zur Sprache kommen. Auch tabuisierte Themen wie Scham und Ekel, Chaos und Ordnung oder auch Leidenschaft und späte Lust sind der 61jährigen Gerontopsychologin nicht fremd. Tagtäglich übt sie sich im Spagat zwischen den Erkenntnissen der Altersforschung und der Lösung der Alltagskonflikte ihrer Klientel. Nun, seit Oktober 23, ist ihr reiches Wissen und Können im Sachbuch «Alte Bande» auf 404 Seiten gebannt. Das Versprechen im Untertitel lautet: Wie in späten Jahren eine Beziehung auf Augenhöhe zwischen Eltern und Kindern gelingen kann.
Augenhöhe wie geht das?
«Die Rollen verändern sich. Aber drehen sich niemals um», sagt die Alterspsychologin. Damit trifft sie einen Kernpunkt der «Alten Bande». Gemeint ist, dass sich die Abhängigkeitsverhältnisse der ersten Jahre in den letzten gemeinsamen Jahren nicht einfach umkehren. «Nun werden meine Eltern wieder zu Kindern», hört man allerdings da und dort alte Kinder klagen. Fehlanzeige meint Ugolini. «Auch wenn der betagte Papa inkontinent wird und die 90jährige Mama kaum mehr aus der Wohnung kommt, Eltern bleiben Eltern, Kinder bleiben Kinder.» Mit Vehemenz vertritt die Expertin diesen Standpunkt und weist darauf hin, dass erhebliche Gefahren lauern, wenn die Kinder beginnen ihre eigenen Eltern zu bemuttern: Bevormundung, Übergrifflgkeit, Entwürdigung bis hin zu psychischer oder auch körperlicher Gewalt. In unzähligen Beispielen von Konfliktsituationen illustriert Bettina Ugolini in «Alte Bande» was es heissen könnte, auf Augenhöhe zu bleiben, wenn es im späten Miteinander herausfordernd wird. Dabei spielt die jeweilige Perspektivenübernahme eine wesentliche Rolle. Die emeritierte Schweizer Professorin für Entwicklungspsychologie Pasqualina Perrig-Chiello attestiert: «Das Buch, das mit vielen Fallbeispielen illustriert ist, nimmt einen wechselseitigen Blickwinkel ein,- mal die Kinder- mal die Elternperspektive. Das ist nicht nur spannend und willkommen differenzierend, sondern eine systemische Notwendigkeit.» Ein Mediationstraining der besonderen Art.
Filiale Reife
Wer auf Augenhöhe bleiben möchte braucht möglicherweise Orientierungshilfe. Diese kommt von Margaret Blenkner. Sie war Heilpädagogin und Sozialarbeiterin und hat das Konzept der «filialen Krise» und der «filialen Reife» erarbeitet. Dieses Konzept ist in «Alte Bande» wegweisend, wenn es um die Frage geht, was zählt, wenn die gemeinsamen Jahre gezählt sind.
Die filiale Krise tritt meistens dann ein, wenn Kinder realisieren, dass ihre Eltern ihnen nicht mehr Halt und Orientierung sein können, sondern stattdessen der Unterstützung bedürfen. Dann steht ein Beziehungswandel an, der im Idealfall in die filiale Reife mündet. Erst nachdem das längst erwachsene Kind diese letzte Stufe in der Entwicklung der «Kinderrolle» durchlaufen hat, ist es fähig, Verantwortung für seine Eltern zu übernehmen. Die filiale Reife ist ein bewusst vollzogenes Adieu von der Kindheit. Dieser Abschied ereilt die meisten zwischen 40 und 55. Margaret Blenkner spricht diesbezüglich von einer anderen Form der Liebe. Liebesarbeit gibt es aber auch für die Eltern.
Parentale Reife
Nicht mehr so weltgewandt, innovationsfreudig, autonom und kompetent zu sein wie ihr Nachwuchs ist in einer von Jugendwahn und Altersangst gezeichneten Gesellschaft für die Alten nicht leicht. Auch sie sind gefordert. Sie können aber «parentale Reife» entwickeln und die filiale Verantwortung ihrer Kinder akzeptieren lernen. Parental reif ist nämlich, wer Verantwortung für sein Leben übernimmt und sich den altersbedingen Veränderungen stellt. Dazu kann vieles gehören: die Abfassung eines Testaments, das Schreiben einer Patientenverfügung oder eines Vorsorgeauftrags, ebenso wie andere Gespräche zu neueren Themen mit den erwachsenen Kindern. Die Annahme extrafamiliärer Unterstützungsangebote ebenso wie überraschende Schritte ins Neuland. Was ist denn zu guter Letzt noch zu verlieren?
«Aber ich will niemandem zur Last fallen!» Dieser Satz gehört zum Alltagsrefrain vieler Betagten. Darum verweigern sie oft, Umsorgung und Unterstützung, Hilfe und Liebesdienste. Und genau mit dieser Form der «parentalen Krise» fallen sie dann ungewollt und gut gemeint ihren Kindern zur Last. Gut gemeint kommt oft schlecht an und es herrscht wieder Schieflage.
In «Alte Bande» ist zur parentalen Reife zu lesen: «Die Balance von Geben und Nehmen muss neu justiert werden. Das ist nicht auf die Schnelle und nicht einfach zu haben. Es muss gewollt werden. Und es bedeutet Liebesarbeit.»
Vielleicht zeigt sich diese anspruchsvolle Liebesarbeit an den kommenden Feierlichkeiten ganz einfach, wenn sich die betagte Mama dankbar von den Jüngeren bedienen lassen und diesen Rollenwandel ohne Verlust des eigenen Selbstbildes geniessen kann. Oder vielleicht beschenkt die 60jährige Tochter ihren bleichen, schwächlich gewordenen Papa mit einer Portion filialer Reife, indem sie darauf verzichtet, ihn mit gutgemeinten Imperativen zuzudeckeln. «Papa, du musst mehr trinken!»» Papa gehe mehr an die frische Luft!» «Lass dich wieder einmal durchchecken, Papa!» Imperative passen schlecht zur Augenhöhe und auch zu frohen Weihnachten.
Cornelia Kazis/Bettina Ugolini:
ALTE BANDE
Wie in späten Jahren eine Beziehung auf Augenhöhe zwischen Eltern und Kindern gelingen kann.
Edition Xanthippe
404 Seiten
ISBN 978-3-905795-74-5
Die Autorin steht für Interviews und Veranstaltungen zur Verfügung.
Meine früheren Publikationen:
„Vrenehärz“ Für ein gutes Leben bis zuletzt
Eine Biografie. Erzählt wird das bewegte und bewegende Leben der Schweizer Pionierin für Palliative Care: Dr. h.c. Vreni Grether. Das Buch ist nicht im Buchhandel sondern nur über den privaten Weg erhältlich.
Beistandschaft — Die Kunst des Spagats.
Weiterleben, weitergehen, weiterlieben – Wegweisendes für Witwen
Buchstäblich sprachlos.
"Buchstäblich sprachlos" ist ein Buch über den zunehmenden Analphabetismus in der Informationsgesellschaft, Zürich, Lenos 1991 > bestellen
Dem Schweigen ein Ende
"Dem Schweigen ein Ende" ist ein Handbuch mit konkreten Handlungsanleitungen und Hilfen zum Thema "Sexuelle Ausbeutung von Kindern in der Familie". "Das systematisch aufgebaute Buch liefert in verschiedenen Beiträgen namhafter Psychologinnen Aufklärung und bietet durch Präventionsvorschläge konkrete Hilfeleistung an." (Schweizer Bibliotheksdienst).
Dem Schweigen ein Ende. Sexuelle Ausbeutung von Kindern in der Familie, Zürich, Lenos 1988 > bestellen
Lichtblick für helle Köpfe
Begabungs- und Begabtenförderung an der Volksschule
Lektorat und Konzeptarbeit
Aktualisierte 2. Auflage, erschienen 2021 im Zürcher Lehrmittelverlag